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Die mystische Welt des Tantrismus


Eine wissenschaftliche Betrachtung des hinduistischen und buddhistischen Tantra

Der Wissenschaftler und Naturphilosoph Jochen Kirchhoff von der Humboldt-Universität Berlin hat sich vor einigen Jahren intensiv mit dem Tantrismus beschäftigt und Vorträge gehalten. Diese Referate waren sehr detailliert, von enormer Sachkenntnis und sind die Grundlage dieser Seite.

„Tantrismus ist keine Theorie oder Denksystem. Es ist eine fundierte Wissenschaft des Körpers. Natürlich beinhaltet die Praxis des Körperlichen auch einen spirituellen, kosmologischen Zusammenhang. Tantra ist in erster Linie aber eine Erfahrungswissenschaft des Körpers. Gleichzeitig ist sie eine Bewusstseins-Lehre, es kommt in jedem Aspekt auf die Qualität des Bewusstseins an. Es enthält Praktiken und Methoden, mittels deren man in ganz bestimmte Zustände gelangen kann. Es ist also eine Arbeit mit den Energien des Körpers, mit der Lebensenergie. Dabei ist die Grundlage ein sehr feines, hoch differenziertes System, das die feinstofflichen Ströme im menschlichen Körper ausmacht und wie sie kanalisiert werden können mittels meditativer Praktiken.“

Die Wurzeln des Tantrismus liegen weitgehend im Dunkeln, es gibt weder eine regionale noch zeitlich exakte Bestimmung. Vorhanden sind nur noch Reste tantrischer Praktiken und Rituale in Teilen von Indien und Tibet. Der Tantrismus ist eine Grundströmung und von Anfang an weder hinduistisch noch buddhistisch. Diese Grundströmung hat sich irgendwann mit beiden Systemen verbunden, wobei sich im Laufe der Zeit im tantrischen (oder tibetischen) Buddhismus ein immer größer werdender Abstand zur Ursprungs-Lehre gebildet hat und irgendwann dort nur noch symbolisch-imaginativ umgesetzt wird. Die Linie der Gelbmützen, denen der Dalai Lama vorsteht, ist davon am weitesten entfernt.

Was wir haben ist eine Sammlung von Texten, die als Tantras bezeichnet werden. Das ist eine Fülle von schwierigen und komplexen hinduistischen und buddhistischen Texten, von denen nur ein Bruchteil in eine andere Sprache, z.B. ins englische, französische oder deutsche übersetzt wurden.

Es wird viel über die Bedeutung des Wortes Tantra spekuliert, eine einheitliche Deutung gibt es jedoch nicht. Eine dieser Interpretationen benennt die Silbe „Tan“ mit einer Art „Gewebe“, heute würde man dazu vielleicht Vernetzung oder Netzwerk sagen.

Der Grundgedanke von Tantra ist, dass die Welt als Ganzes ein großes (Energie-)System oder Netzwerk darstellt, innerhalb dessen sich alles (innen und außen, diesseits und jenseits, männlich und weiblich) in einem sehr komplexen Zusammenspiel befindet. Die Welt ist zwar aufgespalten in Dualitäten, aber in der Tiefe eine Einheit.

Die Kernaussage ist: alle Polaritäten gehen zurück auf eine Ur-Einheit, deshalb muss die Welt als Ganzes bejaht werden. Es gibt kein „gut“ oder „schlecht“. Tantrismus ist, plakativ ausgedrückt, eine Lehre der Welt-Bejahung.

Das ist ein radikal anderer Ansatz gegenüber den meisten anderen spirituellen Systemen wie z.B. Yoga oder den monotheistischen Religionen, deren Strategie auf die Dualität ausgerichtet ist. Gut und böse, Dogma und Sünde, Himmel und Hölle, Gott und Teufel sind dort das Fundament. Der tantrische Ansatz ist vollkommen konträr dazu.

Das tantrische Gedankengut lässt sich folgendermaßen Zusammenfassen:

das Universum ist eine Einheitin jedem Teil des Universums spiegelt sich diese Einheit wiederdie Polarität lässt sich wieder zurückführen auf diese Einheitjeder Mensch kann diese Einheitserfahrung machen entweder mit Meditation oder in der sexuellen Ekstasejeder Mensch als Mikrokosmos ist ein Spiegelbild des Universums als Makrokosmos

Das deckt sich vollkommen mit dem, was man wissenschaftlich unter einem Hologramm versteht. Jedes einzelne Teil eines Hologramms ist das Abbild des Ganzen. Wenn man z.B. ein Gemälde in vier Teile zerschneiden würde, dann hätte man vier verschiedene Teile. Wenn man ein Hologramm zerteilen würde, dann hätte man vier identische Teile. Jedes einzelne Teil besitzt die Erinnerung und die Information an den Zustand, als es noch ein GANZES war. Genau das ist die Kern-Aussage des Tantrismus bezüglich der Stellung des Menschen im Universum und dem Großen und Ganzen, der Ur-Einheit, dem EINEN. Die Erfahrung des Eins-Seins ist Glückseligkeit, ist Ananda!

Spiritualität im Tantrismus bedeutet auch nicht eine Abkehr von der sinnlich-physischen Welt, es ist keine Verneinung von Sexualität und Eros, wie es die meisten anderen spirituellen Systeme verlangen – im Gegenteil! Eine wesentliche Aussage dieser Lehre ist, dass die höheren Stufen des Mensch-Seins nicht erreicht werden können, wenn man sich vom Körper und seinen Bedürfnissen abwendet! Tantra bejaht den Körper als Instrument, als Vehikel zur Erlangung von Bewusstheit. Erleuchtung durch Ekstase, könnte man sagen, was den Kern absolut trifft. Erleuchtung erlangen durch ein waches und bewusstes hineingehen in sinnlich-erotische Zustände der seelisch-geistigen Existenz.

„Entsagung, Loslösung und Askese sind nicht die Wege des Tantra. Im Eigentlichen ist Tantra das Gegenteil: nicht ein Sich-Zurückziehen vom Leben, sondern das vollständige Annehmen unserer Sehnsüchte, Gefühle und Bedingungen als menschliche Wesen“. Ajit Mookerjee, Inder und Autor von → Die Welt des Tantra.

Es gibt kein einheitliches Konzept im Tantra. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich verschiedene Linien, Schulen und Konzepte entwickelt. Man kann zwei Hauptströme klassifizieren:

das linkshändige oder rote Tantra (hinduistisch)das rechtshändige oder weiße Tantra (buddhistisch)

Was bedeutet links- und rechtshändig? Es bezeichnet die beiden religiösen Ausrichtungen, den linken und den rechten Pfad. Die Energie des weiblichen wird im Tantra der linken Seite zugeordnet. Aus diesem Grunde wird in Indien die linke Seite sowohl mit der Überschreitung gesellschaftlicher Tabus als auch der dynamischen Energie der Shakti assoziert. Deshalb sitzt Parvati immer links von Shiva. Auf den Punkt gebracht ist der linkshändige Pfad der gemeinsame Weg von Mann und Frau zur Erlangung eines höheren Bewusstseins mit dem Einsatz der sexuellen Vereinigung als Bewusstseins-Instrument.

Shiva und Parvati mit ihren Söhnen Ganesha und Karttikeya

Das rote Tantra ist das ältere und das ursprüngliche der beiden Linien. Beide Pfade erkennen die Sexualität als fundamentale Kraft an, und sie arbeiten konkret damit. Der Unterschied besteht darin, dass im roten Tantra der Sexualakt körperlich vollzogen wird, während er im weißen Tantra nur symbolisiert und sublimiert wird auf eine feinstofflich-geistige Ebene. Die Erklärung liegt auf der Hand: das weiße Tantra wird überwiegend von buddhistischen Mönchen praktiziert, der prominenteste Vertreter dieser Linie (tantrisch-tibetischer Buddhismus) ist der Dalai Lama.

Die sexuellen Praktiken des roten Tantra wurden also im Nachhinein an religiöse Tabus angepasst, so dass die asketischen Mönche (oder Menschen ohne Sexualpartner) ähnliche Erfahrungen machen konnten. Im Ursprung aber war der Sexualakt und die Ekstase das eigentliche Instrument zur Erlangung eines höheren Bewusstseins und die Erfahrung des Eins-Seins.

„Das rote Tantra ist der natürlichere und kraftvollere Weg, weil er beide Instrumente nutzt: Meditation und sexuelle Ekstase. Der Mensch ist in seiner genetischen Veranlagung nicht asketisch, sondern sinnlich und lustvoll.“

Tantra hat auch den Ruf, eine Sexuallehre zu sein. Das trifft in gewisser Weise auch zu, denn nirgendwo sonst spiegelt sich die Ur-Polarität deutlicher als im Männlichen und Weiblichen, die ganz direkt im Sexualakt und der Ekstase sinnlich und physisch erfahrbar ist. Die Vereinigung von Mann und Frau im Geschlechtsakt stellt einen archaisch-kosmischen Akt dar, der die Weltschöpfung in jedem einzeln Koitus wiederholt. Diese Sichtweise bestimmt auch die Einstufung der geschlechtlichen Vereinigung von Shiva und Shakti als ein heiliges Ritual im Tantrismus.

Das Ganze ist eingebettet in eine Weltanschauung: der Mensch soll erkennen, dass er ein fester, untrennbarer Bestandteil dieser Welt ist und nicht ein separates, abgeschittenes Teil davon – alles ist mit allem verbunden und ist EINS. Der Sexualakt ist eine existenzielle, konkrete Möglichkeit zur Erfahrung dieser Einheit.

Auch hier gibt es eine vollkommen entgegengesetzte Sichtweise zu den Upanishaden, die stets darauf hinweisen, dass Sinnlichkeit eine mit Leid verbundene Verstrickung an die Sinnenwelt bedeutet. Liebe, Lust und Sexualität sei Täuschung, sei Schein, sei Maya… angeblich führt sie den Menschen hinein in den Schlamm, ins Dunkle… diese Sichtweise kann man wiederfinden in den patriarchischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, in der die Frau als das dunkle, nebulöse und verführende Wesen dargestellt wird, das den Mann als Krone der Schöpfung vom rechten Weg abbringt. Ganz im Gegensatz dazu der Tantrismus, der besagt, dass das Männlich-Weibliche nicht die Verführung ist, sondern als ein Fahrzeug – ja sogar als eine Art Katapult benutzt werden kann, um Erleuchtung zu erfahren.

Aber es gibt eine klare Einschränkung: du kannst und sollst in diese Zustände hineingehen, aber diese Zustände bergen auch die Gefahr, dass du deine klare Bewusstheit und dein Streben nach der All-Verbundenheit und Erleuchtung dabei vergisst. Und das soll nicht geschehen! Dem Tantriker wird zwar angeraten, seine Sexualität auszuleben, aber mit der Maßgabe einer hohen Wachheit und Bewusstheit. Man soll sich nicht mitreisen lassen, sondern gezielt steuern.

Das könnte man dahingehend interpretieren, dass beispielsweise ein Orgasmus beziehungsweise eine Ejakulation beim Mann vermieden werden soll. Dies würde sich mit der Sichtweise der Daoisten decken, die sagen, wenn der Mann seinen Samen „verschleudert“, verliert er an Geist-Essenz. Die daoistische Lehre besagt, dass im männlichen Samen eine spirituelle Essenz (Bewusstsein) verborgen ist, die bewahrt werden muss. Analoge Aussagen über die Frau gibt es jedoch nicht.

Die tantrische Bewusstseins-Arbeit ist sehr ausgeklügelt, detailliert und streng ritualisiert. Dies könnte man augenscheinlich als Einschränkung sehen, weil vom Tantriker eigentlich erwartet wird, dass er bereits eine hohe Bewusstseinsstufe hat. Warum sollte er sich dann fesseln? Es wird aber auch davon ausgegangen, dass nicht jeder in der Lage ist, so ohne Weiteres diese Bewusstseinsarbeit zu leisten, und deshalb sollen sie eine Hilfe, eine Art Navigationssystem sein. Diese Rituale sind durchdacht bis ins kleinste Detail, z.B. wann und wo sie stattfinden, wie der Raum aussehen soll, wer welche Übung mit wem macht, wie lange es dauern soll und so weiter.

Obwohl es nicht ausdrücklich ausgeschlossen wird, war und ist der Tantrismus ein Guru-System, d.h. es bedarf eines Lehrers, der bereits über die entsprechenden eigenen Erfahrungen verfügt und eine hohe Bewusstseins-Stufe erreicht hat. Es wird immer wieder auf die Risiken vor „ungeschultem und gierigem Umgang“ mit den Techniken hingewiesen, es könnte dabei zu spontanen Kundalini-Erfahrungen kommen, die psycho-pathologische Effekte hervorrufen könnten.

Schlüsselinstrumente für die tantrische Praxis sind:

Mandalas und Yantras

Mandalas sind meist kreisförmige Meditationsdiagramme, die vorwiegend in der buddhistischen Praxis Verwendung findet. Sie sollen die spirituelle Energie im physischen Körper bündeln und mit dem feinstofflichen Körper verbinden. Deshalb gibt es dort einen strategischen Mittelpunkt in Form eines Punkts, Dreiecks, Tempels, Figur o.ä., auf die die Konzentration fokussiert wird.

Die Lehre geht davon aus, dass der physische Körper (Deha) einen Doppelgänger oder Ur-Bild (Bardo) im feinstofflichen Bereich hat, der sich zwischen dem physischen und dem Geist-Seelen-Körper befindet. Erstaunlicherweise deckt sich diese Auffassung mit der altägyptischen Mythologie – dort wird der physische Körper als „Khat“ und der Zwillingskörper als „Ka“ bezeichnet. Darüber hinaus gibt es verblüffend viele Parallelen zum Isis-Kult, man könnte glauben, dass beide (also Tantrismus und Isis-Kult) einen gemeinsamen Ursprung haben. Im Tantrismus ist „der Körper“ immer die Summe von beiden. Mit dieser Meditations-Technik soll das Abbild des physischen Körpers erfahrbar werden.

Yantras sind geometrische Formen, die eher in der hinduistischen Meditation eingesetzt werden.

Mantras

Mantras sind Wörter, Sätze oder Kern-Silben, die man rituell wiederholt in der Annahme, dass man sich mittels der Klangqualität in die Klangstruktur des Universums hinein begibt, dass aus dem Ur-Äther (Akasha) heraus bestimmte Klangmuster erzeugt werden. Mantra ist hauptsächlich eine konzentrierte „Gedankenform“, die auf esoterischen Eigenschaften beruhen.

Die Kraft eines bestimmten Mantra liegt in einer Reihe von miteinander verbundenen Faktoren, nämlich in seinem Muster von Klangwellen und der Art und Weise des richtigen Intonierens. Im allgemeinen wird das Mantra nur dann als wirksam betrachtet, wenn es vom Schüler durch den Mund eines Guru empfangen worden ist. Ein derart erwecktes Mantra aktiviert die Schwingungskanäle und bringt bestimmte überbewusste Gefühlszustände hervor, die den Schüler zu seinem Ziel bringen. Die Rezitation eines Mantras, dessen symbolische Bedeutung man nicht kennt, ist eine Übung, von der es heißt, dass sie wirkungslos bleibe.

Mudras

Das sind bestimmt Gebärden, die die Energien des feinstofflichen Körpers kanalisieren sollen. Sie werden oft auch verwendet als Ganzkörper-Zeichen, also bestimmte Haltungs-Kombinationen, die man beispielsweise auch aus dem Yoga kennt.

Tantra-Yoga, die Asanas

Das sind ganz spezielle Körperstellungen und Übungen, die den Fluss der sexuellen Energie kanalisieren sollen.

Sexualität

Tantra unterscheidet drei Aspekte der Sexualität:

zur Fortpflanzungzum Lustgewinnals Instrument zur Erlangung eines höheren Bewusstseins

Der erstgenannte Aspekt spielt im Tantrismus überhaupt keine Rolle, der zweite ist ein willkommener Nebeneffekt oder Begleiter. Der Fokus liegt eindeutig auf der Bewusstseins-Ebene und soll als direkter Weg zur Erfahrung des Eins-Seins gegangen werden.

Neo-Tantra.